Kuratiert von Mathieu Copeland
Bereits beim Betreten des Ausstellungsraums werden die Besucher mit unerwarteten Formenvon künstlerischen Werkenkonfrontiert. An Stelle der sonst meist statischen Bilder oder Objekte, finden sich lediglich drei Personen in der Halle vor. Sie bewegen sich individuell oder miteinander, gestikulieren, summen, reden, tanzen, agitieren oder verharren still am Ort. Was auf den ersten Blick als zufällige Handlungen und Gesten anmuten mag, sind präzis ausgedachte Bewegungsabfolgen. Diese einzelnen Sequenzen wurden im Vorfeld der Ausstellung von Mitgliedern der Tanzkompanie des Theaters St. Gallen als eigenständige Grundeinheiten unter der Anleitung von internationalen Künstlern, ChoreographInnen und Musikern einstudiert. Erst in der Aneinanderreihung der eigens für die Kunst Halle konzipierten Stücke enthüllt sich zum Ausstellungsende hin eine übergeordnete Bewegungsabfolge. So vereint «Eine choreographierte Ausstellung» Gegenwartskunst mit zeitgenössischem Tanz zu einer Langzeit-Performance, die über eineinhalb Monate fortdauert.
Das vom freischaffenden Kurator Mathieu Copeland (*1977, lebt in London) entwickelte Projekt beruht grundsätzlich auf einer Akkumulation von Bewegungen. Diese werden als Mittel eingesetzt, um ein vergängliches Gemeinschaftswerk zu erzeugen, das nur als Erinnerung Bestand haben wird. Somit stellt «Eine choreographierte Ausstellung» bewusst den eigenen Status in Frage, indem sie den Rahmen der üblichen Präsentationsweisen von Kunst sprengt. Statt der gebräuchlichen Platzierung der einzelnen Werke im Raum, wird hier der Faktor Zeit, und somit Rhythmus, zur entscheidenden Referenzgrösse: Nicht wo ein Objekt räumlich steht, sondern wann eine bestimmte Bewegungsabfolge zeitlich positioniert wird, ist von Relevanz. Da aber das Publikum durch seine eigene, zeitlich begrenzte Anwesenheit dementsprechend nur mit einem Bruchstück des gesamten Gruppenwerks konfrontiert wird, gewinnt auch der Zeitpunkt, an dem der einzelne Besucher die Ausstellung jeweils betritt, an Bedeutsamkeit.
Der mit Insiders betitelte Beitrag von Roman Ondak (*1966, lebt in Bratislava) wird jeden Tag den Aufführungsturnus einleiten und am Abend ausklingen lassen. Als eingeweihte Gemeinschaft werden die Tanzenden ihre Kleider verkehrt herum tragen und die Realität ihrer Umgebung nicht zur Kenntnis nehmen – d. h. ostentativ die Präsenz der Besucher ignorieren. Als zweite Grundeinheit lässt der Leiter der Tanzkompanie St. Gallen, Philipp Egli (*1966, lebt in St. Gallen), die Tanzenden versiegelte Briefumschläge frei wählen, in welche sie ein Set von unbekannten Anweisungen vorfinden. Sein Stück Advent Calendar reflektiert en miniature den Gesamtauftrag der Mitglieder der Kompanie: Dieser besteht darin, sich von einer Aufgabe als erstes überraschen zu lassen, sich dann später an die übertragenen Instruktionen zu erinnern und als Bewegungen in Raum und Zeit zu vollführen. Der Komponist Michael Parsons (*1938, lebt in London) nimmt sein wegweisendes Werk Walking Pieces aus dem Jahr 1968 wieder auf. In seiner Reinterpretation instruiert er die drei Mitwirkenden, wie sie sich im Raum der Kunst Halle zu bewegen haben. So soll ein offenes Stück von "optischer Musik" erzeugt werden. An das Experimentaltheater der 1960er Jahre erinnert wiederum Fia Backströms & Michael Portnoys (beide leben in New York) Arbeit über Tausch-Systeme. In AFFYSBOX + 13.1 duellieren sich zwei Tanzende vor ihren „Stammesangehörigen“, indem sie tribalistische Bewegungen und primitive Geräusche imitieren. Das groteske Verhalten der Antagonisten wird durch die dritte Person der Gruppe initiiert, die einem Beschwörungsritual ähnlich eine Serie von fünf Lauten vorliest. Diese gebieterischen, ethnologisch anmutenden Formeln basieren auf aktuellen Aktienkapitalmeldungen. Keine „optische Musik“, sondern eine "Polyphonie von Stimmen" kreiert Karl Holmqvist (*1964, lebt in Berlin) mit A Tomorrow/Who Killed Bambi? Medley. Darin fordert er die Tanzgruppe auf, zwei unterschiedliche Liedtexte (der melancholische Song „Tomorrow“ von Bugsy Malone und das legendäre Punkstück „Who Killed Bambi“ von The Great Rock’n’Roll Swindle) auf ihre persönliche Art zu interpretieren. Die Vermittlung von Three Cases of Amnesia an die Tanzenden wurde nicht vom Choreographen Jonah Bokaer (*1981, lebt in New York) übernommmen, sondern von einem Computerprogramm generiert. Die so virtuell erzeugte „Ur-Formel“ (von Bokaer „Germ“, dt. Eizelle genannt), wird über mehrere Ebenen von Umschriften gefiltert und zuletzt durch die Ausführenden selbst im Raum weiterentwickelt. Als Bindeglied zwischen allen Bewegungsabfolgen entwickelt Jennifer Lacey (lebt in Paris) schliesslich mehrere Verknüpfungselemente: Die Tanztruppe wird alternierend dazu aufgefordert, die von ihnen selbst gewählten Handlungen mit Summgeräuschen zu unterlegen, sich auszuruhen oder auch mal ikonische Bewegungen aus dem klassischen Tanzrepertoire blindlings aufzuführen. Das Stück Transmamiastan soll so den roten Faden durchs Gesamtarrangement weiterspinnen.
In einem Raum, der abgesehen von den Ausführenden vollkommen leer bleibt, bestimmen allein die Öffnungszeiten und die Dauer das Tempo und den Rhythmus der Ausstellung. Die individuellen, partiellen und bruchstückhaften Erinnerungen der Besucher hingegen, werden, auch nachdem die allerletzte Bewegungsabfolge zum Stillstand gekommen ist, fortdauern.
Wir freuen uns sehr, mit diesem extern kuratierten Projekt mit internationaler Beteiligung aus Kunst, Tanz und Musik das gängige Ausstellungsformat zu sprengen, was nicht zuletzt die Frage aufwerfen soll, was denn eine „Ausstellung“ eigentlich ausmache.
Wir danken der Ars Rhenia Stiftung, Arnold Billwiler Stiftung, British Council und der Schwedischen Botschaft für ihr grosszügiges Engagement. Eine choreographierte Ausstellung ist eine Produktion in Zusammenarbeit mit Centre d'art contemporain La Ferme du Buisson, Marne-la-Vallée (F), Realisation durch das Theater St. Gallen.