Petrit Halilaj (*1986, Kosovo) scheut sich nicht, seine persönliche Biografie als Quelle für seine Arbeit zu nutzen. So sind die Kindheitserinnerungen des Künstlers, in deren Zentrum der Kosovokrieg (1998-1999) und die mit ihm verbundene Flüchtlingstragödie stehen, der Motor für die Erschaffung komplexer und oft monumentaler Installationen. Die Suche nach einem Verständnis von Heimat ist für die betroffenen Menschen noch heute ein drängendes Thema. Dieses wird sowohl von der Weltgeschichte als auch von der persönlichen Definition der eigenen Identität beeinflusst. Halilaj verwendet in seiner künstlerischen Praxis einfache Werkstoffe wie Erde, aber auch lebendige Hühner und gefundene Archive aus verschwundenen Museen im Kosovo, um diese permanente Suche sichtbar zu machen und um Materialien und Geschichten aufzuwerten. Seine Ausstellungen werden so zu präzis konzipierten Narrationen, die das Publikum zu berühren wissen.
In der Kunst Halle Sankt Gallen präsentiert Petrit Halilaj Neuproduktionen, die von seinem ständigen Bestreben zeugen, verloren Gegangenes wiederzufinden und sichtbar zu machen und sich dadurch abstrakten Begriffen wie Heimat und Identität zu nähern. So sind hundertfache Vergrösserungen verschiedener Schmuckstücke seiner Mutter in der Ausstellung zu sehen (It is the first time dear, that you have a human shape). Die originalen Kostbarkeiten hatte sie in einer Schatulle zusammen mit den Kinderzeichnungen ihres Sohnes während des Kriegs zum Schutz vor Plünderern auf ihrem Grundstück im Kosovo vergraben.
Neben diesen grossformatigen Skulpturen zeigt Halilaj auch die erhalten gebliebenen Zeichnungen, die eindrücklich veranschaulichen, von welcher Wichtigkeit die künstlerische Umsetzung von Erfahrungen und Erlebnissen schon in sehr jungen Jahren für ihn war. Die vor dem Krieg entstandenen Zeichnungen imaginärer Orte und farbenfroher Vögel – die der Installation ihren Namen geben – sind an einem filigranen Eisengebilde befestigt, das aus einem Erdhaufen heraus in den Raum zu wachsen scheint (Several birds fly away when they understand it). Das Hervorholen der Zeichnungen aus der Enge und Dunkelheit ihres Verstecks in einen raumgreifenden Schwebezustand zeugt von Halilajs Verlangen, Leichtigkeit im Umgang mit der Vergangenheit zu finden und etwas Positives zu erschaffen. Die Juwelen und Zeichnungen sind gleichzeitig Erinnerungsträger und identitätsstiftende Elemente in einer Ausstellung, die auch als Liebeserklärung an seine Mutter und an sein Land gelesen werden kann.
Wiederkehrende Elemente in Halilajs Schaffen sind das Grundstück und die Ruine des im Krieg zerstörten Familienhauses in Kostërrc, das von seinem Grossvater in den 40er Jahren erbaut und in dem der Künstler geboren wurde. Die Verwendung der Trümmer wirft Fragen über den Umgang mit der persönlichen Vergangenheit und dem eigenen Verständnis von Heimat auf und macht die Ruine zum Symbol für eine Volkstragödie und zum Zeugnis der Weltpolitik. Für die Ausstellung in der Kunst Halle wurde ein Teil der Überreste des Hauses nach St. Gallen transportiert, wo sie in verschiedenen Formen in Erscheinung treten. So wurde das Eisen der Schmuck-Skulpturen mit dem Schutt der Ruine vervollständigt, der durch die Transformation in Pigmente und groben Kies nicht nur im physischen Sinne an Schwere verliert, sondern auch eine neue und 'wertvolle' Funktion gewinnt. Grössere Gesteinsbrocken dienen als Sitzmöglichkeiten für das Betrachten eines Videos (Who does the earth belong to while painting the wind?!), das dokumentiert, wie sich die Natur das Grundstück und die Ruine inzwischen zu eigen gemacht hat und wie der Ort so eine sanfte Wiederbelebung erfährt: Schmetterlinge hauchen ihm - ungeachtet ihrer Fragilität - neues Leben ein und geben der hoffnungsvollen Haltung des jungen Künstlers Ausdruck. Archivbilder, die kurz nach der Rückkehr der Familie aus dem Flüchtlingslager entstanden sind, zeigen, wie der 13jährige Halilaj in der Krone eines Kirschenbaums sitzend genüsslich Früchte vom Baum erntet und ebenfalls versucht, sich den Ort wieder anzueignen.
Petrit Halilajs Kunst entsteht in langen Prozessen und mit grossem logistischen Aufwand, wodurch die emotionale Belastung in den Hintergrund rückt. Die persönliche Vergangenheit - wenn auch düster und tragisch - wird so zu einem Resonanzraum, in dem Erinnerungen und Gefühle ein Gleichgewicht finden dürfen, ohne ihre Bedeutung zu verlieren. Genau dieser Raum bildet den idealen Ort, an dem Kunst entstehen kann und die Menschlichkeit wieder Platz findet.
Eröffnung: Fr, 20. Juli, 18 Uhr
Öffentliche Führungen: Di, 14. August, 18 Uhr; So, 23. September, 15 Uhr
Museumsnacht: 8. September 2012, 20 Uhr
Kunst über Mittag: Do, 20. September, 12 Uhr
Petrit Halilaj (*1986, Kosovo; lebt in Berlin, Kostërrc/Kosovo und Mantova/IT) studierte an der Akademie der Bildenden Künste Brera in Mailand. Einzelausstellungen fanden in folgenden Institutionen und Galerien statt: Kunstraum Innsbruck (AT); ?Statement, Art Basel (2011); Center for Contemporary Art Prishtina, Kosovo; Chert, Berlin (2009). Des Weiteren war er an diversen Gruppenausstellungen beteiligt, darunter: ERROR ONE, a nomadic initiative for contemporary art, Antwerpen; Kunstverein Nürnberg (2012); RaebervonStenglin, Zürich; Bonner Kunstverein; New Museum, New York; Atelierhaus Monbijoupark, Berlin; Westfälischer Kunstverein, Münster (2011); The Institute of Social Hypocrisy, Paris; 6. Berlin Biennale für Zeitgenössische Kunst (2010); Siemens Gallery, Istanbul; Kunstverein Arnsberg (DE) (2009).